
Wer gibt Orientierung?

Liebe Leserin, lieber Leser, seit dem Nürnberger Kirchentag kann kein Zweifel mehr daran bestehen: Die sexuelle Revolution hat auch in der evangelischen Kirche gesiegt. Bei einem der beiden Abschlussgottesdienste rief der Pfarrer unter dem Applaus des Publikums: „Gott ist queer!“ Bei dem anderen Abschlussgottesdienst zog der Pfarrer den Geschlechtswechsel eines Mannes zur Frau als Beispiel für „Heilung“ heran. Im Zentrum „Geschlechterwelten und Regenbogen“ trällerte ein Travestiekünstler: „Warum soll eine Frau keinen Penis haben?“ Auf dem „Markt der Möglichkeiten“ durfte zwar nicht für den Lebensschutz geworben werden (siehe Seite 36), wohl aber für Polyamorie (Liebesbeziehungen mit mehreren Partnern gleichzeitig).
Alles ist erlaubt
Mit anderen Worten: Alles ist erlaubt. Die evangelische Kirche hat sich von dem Anspruch verabschiedet, so etwas wie eine Sexualethik zu formulieren. Stattdessen feiert sie die sexuelle Selbstverwirklichung und liefert bestenfalls noch einen theologischen Unterbau dazu. In welche Richtung die Reise geht, zeigte ein Vortrag des früheren katholischen Priesters Pierre Stutz, der dafür plädierte, die Kirche müsse künftig Geschlechtsorgane segnen und in Gottesdiensten das Hohelied verlesen.
Die evangelische Kirche hat sich von dem Anspruch verabschiedet, so etwas wie eine Sexualethik zu formulieren.
David Wengenroth
Schattenseiten der Selbstverwirklichung
Um es klar zu sagen: Es ist gut, dass die Kirche heute auch den Angehörigen von sexuellen Minderheiten mit Liebe und Respekt begegnen will. Es war nie Aufgabe von Christen, andere Menschen für vermeintliche oder tatsächliche Sünden zu verurteilen. Es wäre aber ein Missverständnis, dass es deswegen aus christlicher Sicht zu Sexualität nur noch zu sagen gäbe: „Macht, was ihr wollt!“
Denn die Ideologie der grenzenlosen sexuellen Selbstverwirklichung hat ihre Schattenseiten. In unserer gesellschaftlichen Realität etwa sprengt sie Familien. Sie beschwört Konflikte über berechtigte Schutzinteressen herauf, etwa bei der Gefahr der Frühsexualisierung von Kindern. Ein weiteres aktuelles Beispiel ist das geplante Selbstbestimmungsgesetz und die Frage: Sollen biologische Männer, die sich als Frauen bezeichnen, Zugang zu Schutzräumen für Frauen haben?
Den Diskussionen stellen
In Fragen der Sexualethik kann und sollte die Kirche den Menschen keine Vorschriften machen, aber Orientierung anbieten. Und ihr Maßstab darf dabei nicht die grenzenlose Selbstverwirklichung sein, sondern das Wort Gottes. Was das konkret für die Beurteilung verschiedener Formen gelebter Sexualität bedeutet, darüber wird gegenwärtig selbst in frommen Gemeinden gestritten. Diesen Diskussionen sollte sich die ganze evangelische Kirche wieder stellen – statt so zu tun, als seien mit ihrer neuen Offenheit alle Probleme gelöst.