
Von Gott ergriffen werden
Jürgen Werth

Ein Buch zur rechten Zeit. Denn 80 Jahre ist es in diesem Advent her, dass der evangelische Schriftsteller und Liederdichter Jochen Klepper (1903–1942) mit seiner Frau und Tochter hier in Berlin-Nikolassee den Freitod wählte. Sie gingen in das Gas, das die Nazis für seine jüdische Frau und die Tochter in Auschwitz schon bestimmt hatten. Dieses Buch ist in der wunderbaren Form eines Breviers – eines Gebetbuches – erschienen. Die Texte von Klepper und dem Journalisten und Liedermacher Jürgen Werth beten in einem, während man sie liest. Wir kennen die Klepper-Lieder. Und Werth gibt eine kongeniale Einführung in jedes Lied. Klare Worte. Klare Sätze. Die sich einprägen. Die Spuren stiften in mir. Man muss nicht viel lesen. Und kann dennoch viel verstehen. Von Klepper. Und von Gott. Denn das wollte Klepper mit seinem „Kyrie“ – dass Menschen Gott hören und lesen können, Gott also verstehen. Nicht begreifen. Aber ergriffen werden.
Mit diesem Buch kann Gott zweifach nach uns greifen. Durch Kleppers Worte. Und durch Werths Worte. Zehn der zwölf Klepper-Lieder aus unserem Evangelischen Gesangbuch (EG) – darunter z. B. „Ja, ich will euch tragen“ – hat Werth in diesem Buch weitergesungen für uns. Von Martin Luther gibt es 34 Lieder im EG, denn er hat die Kirche zum Singen gebracht. Von Paul Gerhardt sind es 24. Diese drei Dichter haben aus guten Gründen die meisten Lieder im derzeitigen Gesangbuch unserer Kirche. Sie bestätigen die Weisheit von Augustinus: Wer singt, betet doppelt. Und ich füge hinzu: Wer singt, sinkt nicht. Lieder zum Beten. Mit Deutungen von Werth zum Hin-knien. Für die nächste Auflage wünsche ich mir, dass Werth alle Klepper-Lieder aufnimmt. Alle zwölf aus dem EG von heute. Damit niemand bei der nächsten Überarbeitung des Gesangbuchs auf die Idee kommt, ein Lied von Klepper nicht mehr aufzunehmen.
Steffen Reiche, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Nikolassee in Berlin, von 1994 bis 2004 Minister der SPD in Brandenburg